Keine Zukunft ohne Herkunft – Upcycling ist eine Herzunft
Auf der Art Miami raunten sie über „Upcycling“, als Augusto Esquivel aus alten Knöpfen luftballonartige Objekte schuf. In Rio de Janeiro feierten sie die Upcycling-Kunst von Vik Muniz, als er seine Kunstwerke aus Erdnussbutter, Marmelade und Diamanten präsentierte. In London staunten sie, als Tim Noble and Sue Webster mit ihren Schatten-Figuren aus Hausmüll, Schrott und toten Tieren faszinierten. Der kreative und intelligente Umgang mit bereits vorhandenem Material ist vordergründig eine breiter werdende Grundströmung der Gegenwartskunst, weil sie die Wegwerfgesellschaft rückspiegelt und das Ressourcenbewusstsein einer neuen Generation thematisiert. Hintergründig geht es um mehr als einen „Green deal der modernen Kunst“. Es geht um die Suche nach Identität.
Für den Künstler gibt es seit jeher keine Zukunft ohne Herkunft, wie der Philosoph Odo Marquardt treffend erkannte. Der suchende Künstler schätzt seit jeher die Vergangenheit als Quelle seiner Identität. Dort wird der Sucher fündig. Er akzeptiert überhaupt Identität als eine zentrale Bezugsgröße von Ich und Du und Wir. Er weiß um die formative Kraft von Vorgängern für die bewusste und unterbewusste Kultur, die nicht immer neu gefunden oder definiert werden muss, sondern die ihn von vornherein prägt. Er folgt instinktiv dem Diktum Marcel Prousts: „Erst im Gedächtnis formt sich die Wirklichkeit.“ Allerdings wäre der Künstler kein Künstler, wenn er nicht eine neue Wirklichkeit aus dem Inventar der Alten formte.
In den Ready-Mades von Marcel Duchamps und den Dadaisten steckt der Keim des heutigen Upcyclings. Duchamps „Bicycle Wheel“ (1913), ein Vorderrad und eine Gabel, die an einem gewöhnlichen Hocker befestigt sind, oder sein „Fountain“ (1917) (ein gewöhnliches, in einem Baumarkt gekauftes Urinal) gehören zu den Ikonen dieser Kunst ebenso wie wohl Pablo Picassos „Stierkopf“ (1942) aus einem Fahrradlenker und Sattel.
Zuweilen ist es das ironische Zitat, das verfremdete Augenzwinkern, die Verblüffung einer neuen dekonstruierten Re-Konstruktion, die Upcycling-Kunst prägt. Zuweilen ist es die schiere Herkunft und Fremdheit des Materials, die das leise Zitat von Identität eröffnet. Upcycling-Kunst spannt den Bogen vom Woher zum Wohin.
Der Philosoph Hermann Lübbe hat den modernen Menschen als „Orientierungswaisen“ bezeichnet. Das umfassende Lebensgefühl, dass alles, was heute gilt, morgen Makulatur sein kann, befähigt uns zwar, den Modernisierungsprozess zu bewältigen und sich einem totalen Falsifizierungsvorbehalt zu unterwerfen. Im Popperschen Sinne sind unsere Gesellschaften damit liberal, offen und selbstkritisch geworden. Das ist einerseits gut so. Andererseits aber zahlen wir dafür einen Preis der Bewusstlosigkeit. Ethisch, philosophisch, kulturell, historisch finden wir keinen Anfang und kein Ende mehr, die westlichen Gesellschaften sind Treibhölzer einer modernen, technischen Raserei, die sie selbst losgetreten hat. Wir wissen nicht, wohin das führt, wir wissen nicht einmal mehr, wohin das führen soll. Die Modernisierung hat sich gewissermaßen emanzipiert von ihrem Zweck. Was sich Nietzsche von der Moral dachte und wünschte, dass sie eine zeitgebundene, manipulierbare Kategorie sei, das ist mit dem Sinn geschehen. Und das wird in den Dingen sichtbar, mehr noch in ihrer massenhaften Vermüllung.
Das Unbehagen am Wegwerfkult hat eine ökologische Dimension. Upcycling-Kunst sensibilisiert daher sinnlich für unsere Verantwortung und geht dabei über das reine Recycling hinaus. Sie formt die Idee der Nachhaltigkeit zu einer qualitativen Dimension, wenn etwa für die Künstler des Zentrums für Zirkuläre Kunst die Lust am Fundstück /Artefakt prägendes Motiv wird. Bei diesem Kunstprojekt Mecklenburg sind die Ateliers voll von Material über das die Spender selber wissen, dass man es nicht entsorgen darf, denn schon jetzt gibt es mehr von uns hergestellte Dinge als Biomasse auf der Welt. Die Haltung hinter dieser Kunst ist eine zutiefst respektvolle, es werden verworfene Dinge mit traditionellen Verweisen, handwerklicher Qualität oder einfach ästhetischem Reiz durch Upcycling gerettet. Von Umnutzung kann dabei nicht immer die Rede sein, wenn wir davon ausgehen, dass Kunst keinem direkten Nutzen dienen soll, aber es geht prinzipiell um eine verlängerte Nutzungsdauer der Dinge. Ein populäres Beispiel aus dem Kunsthandwerk erklärt das Prinzip: Münzen blieben als Schmuck oder auf Gefäßen erhalten und sind heute besonders wertvoll, weil die anderen Münzen aus der Auflage nur des Materials wegen eingeschmolzen wurden.
Im Lockdown der Pandemie bekam Upcycling eine weitere Facette. Die Gesellschaft wurde wie nie auf ihr „Materielles Selbst“ zurückgeworfen. Die Lockdown-Menschen hatten Zeit, sich mit bereits vorhandenen Dingen ganz neu intensiv auseinander zu setzen und sie neu zu bewerten. Die weltweite Upcycling-Bewegung macht genau dies seit Jahren zum gesellschaftlichen Thema.
Dieser „Green Deal“ zieht pandemisch beschleunigt immer weitere Kreise und wir möchten ihn fördern, weil Upcycling-Künstler eine doppelte Avantgarde verkörpern – die der Behutsamkeitsidee für Ressourcen und die des Neo-Ekklektizismus unserer Identitäten. Friedrich Schlegel formulierte das 1809 so:
Unsere Ahnen alte Kunde
Ist es, was mir Hoffnung gibt;
Wann, belehrt in treuem Bunde,
Man das Alte wieder liebt.
Der Schweizer Literat Adolf Muschg fragte einmal: „Gehen die Deutschen mit ihrer Identität so großzügig um, oder so wegwerfend? Es ist eins, glaube ich, die Quittung der Geschichte zu unterschreiben als ehrlicher Schuldner. Es ist ein anderes, zugleich aus der eigenen Geschichte auszutreten.“ Die Upcycling-Kunst tritt nicht aus der Geschichte aus, sie tritt vielmehr in sie ein. Ihr ist die Notwendigkeit zum Fortschritt völlig klar, aber ebenso klar ist ihr die Notwendigkeit der Tradition. Der polnische Philosoph Kolakowski formulierte diese doppelte Einsicht im Aphorismus „Erstens: Hätten nicht neue Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition aufbegehrt, würden wir heute noch in Höhlen leben. Und zweitens: Würde das Aufbegehren gegen die ererbte Tradition einmal universell, würden wir uns bald wieder in den Höhlen befinden.“ Der deutsche Begriff der „Überlieferung“ ist ein ziemlich passender Begriff für diese Kunstrichtung, denn die alten Objekte sind immer das Herübergelieferte aus der Geschichte. Gerade weil Gewissheiten schwinden, die Geschwindigkeit, mit der sich die Welt um uns herum verändert, so steil ansteigt, weil Heimaten aller Arten verschwinden (Peter Berger beklagt zurecht, dass der moderne Mensch an einem sich dauernd vertiefenden Zustand der Heimatlosigkeit leidet) braucht es ein besonderes Sensorium für und zugleich eine Antwort auf die Raserei der Moderne – die der tradierten Identität.
Christiane Goetz-Weimer ist eine deutsche Verlegerin und Publizistin. 2012 gründete sie zusammen mit ihrem Ehemann Wolfram Weimer die Weimer Media Group, in der eine Reihe von Medien, unter anderen „TheEuropean“ verlegt wird. Als Verlegerin leitet sie auch das Wirtschaftstreffen Ludwig-Erhard-Gipfel und die Zeichensetzer-Veranstaltung Signs Award. Die ehemalige Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gründete bereits 2001 den CH. GOETZ VERLAG in Potsdam, der Zeitschriften, Sachbücher über Politik, Historie und Wirtschaft und Belletristik-Werke verlegt.